Bis zu 20.000 Menschen könnten in der libyschen Stadt Derna ums Leben gekommen sein, als eine Flutwelle durch die Stadt rauschte. Was geschah in den dramatischen Stunden – und wie ist die Lage jetzt vor Ort? Augenzeugen berichten.

Von Mirco Keilberth

„Was die Szene so unwirklich machte, war die Stille.“ Mohamed Mneina stand am Sonntag, dem Tag der großen Flut, seit morgens auf der Anhöhe Al Sheiha oberhalb der Stadt Derna. Hier baut die Familie seit mehreren Generationen Gemüse an. Als die Behörden vor dem wohlmöglich stärksten jemals gemessenen Sturm gewarnt hatten, suchten die Mneinas hier auf ihrer kleinen Farm Schutz.

„Ich hatte kurz überlegt, den Sturm von meinen kleinen Fotostudio im Zentrum mit der Kamera zu dokumentieren, aber das erschien mir dann doch zu gefährlich“, sagt der 34-Jährige.

Für die Nachrichtenagentur Reuters und andere Medien hatte er vor Jahren den Kampf der Aufständischen gegen Gaddafi und die Jahre des Chaos danach festgehalten. Auch seine Heimatstadt Derna geriet nach dem Tod des Langzeitherrschers in den Sog des Chaos. 2014 besetzte der Islamische Staat die damals von rund 60.000 Einwohnern bewohnte Hafenstadt. Mmeina erlebte auch mit, wie die Armee von Feldmarschall Khalifa Hafter 2018 die radikalen Islamisten nach monatelanger Belagerung und Häuserkampf vertrieb. „Viele meiner Freunde haben wie ich in diesen Jahren den Glauben an die Autoritäten verloren, wir haben gelernt, alleine zurecht zu kommen und zu überleben“, sagt Mneina.

Ein geschockter Mann in einer Straße von Derna – eine der Szenen, die Fotograf Mohamed Mneina festhielt

© Mohamed Mneina

Wer nicht wie die Mneinas ein Haus oder Grundstück auf der Hochebene über der Stadt besaß, suchte am Tag der Flut in den Hochhäusern der von Bergen umgebenen Innenstadt Schutz. Mehrere zwölfstöckige Häuser…