Als die kanadische Psychologin Dr. Paula David in den frühen 1990er-Jahren ihren Job als Sozialarbeiterin im Baycrest Centre, einem jüdischen Heim für betreutes Wohnen in Toronto antrat, ahnte sie nicht, was auf sie zukommen würde. Zwar war sie Expertin in Gruppenarbeit und geschult in Traumatherapie, doch das Feld war damals noch nicht so weit entwickelt wie heute. Die 14 alten Damen, mit denen sie sich nun regelmäßig zu Gruppensitzungen traf, waren allesamt Überlebende des Holocaust aus Osteuropa.

Über ihre Kindheit und Jugend wollten die Frauen zunächst nicht sprechen. „Sie sagten mir anfangs sehr deutlich, dass sie diese Geschichten nicht erzählen konnten, da sie keine Worte dafür hatten.“ So unterhielt sich Paula David mit den Teilnehmerinnen über ein Jahr lang ausschließlich über deren Alltag, ihre Kinder und Enkel. Doch viele der Frauen hatten bereits erste Symptome von Demenz, sodass sie ihre frühen, traumatischen Erinnerungen klarer vor Augen hatten als kürzlich Geschehenes. Schließlich „brach der Damm“, wie David einmal in einem TV-Interview sagte. Nun, wo die Frauen ihr vertrauten, hörte sie Berichte, die sie zutiefst erschütterten: von menschlichen Experimenten, Folter, dem Verlust der Kinder oder anderer naher Verwandter, von sexuellem Missbrauch, entsetzlichem Hunger, Krankheit und Zwangssterilisierung.

Dr. Paula David gibt Holocaust-Überlebenden den Raum, über ihre Traumata zu sprechen

Schambesetzte Themen

All dies hatten die Frauen bis dato nicht einmal ihren engsten Verwandten erzählt – teils aus Scham, teils weil der Alltag in ihrer neuen Heimat Kanada ihre ganze Aufmerksamkeit gefordert hatte. „Das war die Zeit vor ‚Schindlers Liste‘. Man sprach noch nicht so viel über den Holocaust. Das Thema war damals noch schambesetzt“, so David im DW-Interview. Mit der Zeit wurde die Gruppe zu einer eingeschworenen Gemeinschaft. Immer wieder gab es Durchbrüche und auch Rückschläge. „Oft war es zu überwältigend“, so Paula…